Auszug aus dem Roman "Da, wo du bist"
Elisabeth saß neben den Großeltern auf dem durchgewetzten Kanapee und lauschte ihrer Großmutter, die mit monotoner Stimme das Weihnachtsevangelium vortrug. Da lag also dieses Kind in einem Stall in der Krippe und lächelte seine Eltern an. Wie gern Walter seine Eltern heute wohl anlächeln würde, dachte sie und die Sorgen legten sich über sie wie eine dunkle Decke. Daran änderten auch die Kerzen am Christbaum nichts. Sie sah ihn vor sich, irgendwo in einem eiskalten Erdloch zusammengekauert und überall blitzte und donnerte es vom Feindfeuer. In den letzten Briefen von ihm las sie zwischen den Zeilen aber und abermals, dass er nicht auf ein baldiges Ende in Russland vertraute. Das ängstigte sie immer mehr.
»So, dann wollen wir singen«, unterbrach der Vater ihre Gedanken und stimmte sogleich »Oh du fröhliche« an.
Für Elisabeth klang das wie Hohn und Spott. Sie öffnete den Mund, doch es drang kein Ton aus ihrer Kehle. Die giftigen Blicke ihrer Mutter trafen sie und auch Großmutter sah sie mahnend an. Elisabeth senkte den Kopf. Sie hüstelte. Die Blicke der
Erwachsenen bohrten sich in ihre Kehle und sorgten erst recht dafür, dass sie keinen Ton herausbrachte. Die Mutter sang unbeirrt weiter. Drei Strophen. Heile Welt. Und Elisabeth war zum Heulen.
Als sie verstummten, trat Mutter vor sie und legte den Finger unter ihr Kinn. »Schau mich an, wenn ich mit dir rede!«
Elisabeth sah auf.
»Gibt es einen Grund, warum du uns die festliche Stimmung versaust?«
»Mir ist nicht nach feiern.«
»Ach so. Dem gnädigen Fräulein ist nicht nach feiern.«
Elisabeth antwortete nicht, denn sie wusste, es würde ohnehin nichts nützen.
»Und, wonach ist dir?« Mutters Stimme klang so kalt wie die Eiszapfen an den Felsen im Wald.
»Schon gut. Lassen wir das.«
»Du solltest dich nicht so wichtig nehmen, Fräulein.« Verächtlich schnaubend trat die Mutter wieder neben den Christbaum.
»Gibt es jetzt die Geschenke?« Karl sprang von dem Schemel auf, auf dem er gesessen hatte.
»Der Herr Ungeduld ist also auch da.« Großvater tätschelte Elisabeths Hand, und sie wusste, er war froh, dass Karl von ihr ablenkte. »Dann lass den Bub nicht mehr warten.«
Die Mutter beugte sich unter den Baum, nahm ein Paket auf, das die Größe einer Zigarettenschachtel hatte und legte es Karl in die Hand. »Frohe Weihnachten, mein Junge.«
Karl lächelte artig und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Dann ging sie zurück, nahm ein zweites Geschenk und brachte es Elisabeth. »Das ist für dich.«
»Danke«, sagte Elisabeth und bemühte sich ebenfalls um ein Lächeln. Sie wurde dabei den Eindruck nicht los, dass es eher wie eine Grimasse aussah.
Das Geschenkpapier raschelte beim Auspacken, Vaters Zigarrenqualm erfüllte die Luft und Großmutter schlürfte an ihrem Wein. »Wenigstens heute wollen wir so tun, als gäbe es die Welt da draußen nicht«, sagte sie bei jedem Schluck.
Elisabeth fand eine neue Schürze in ihrem Päckchen. Die war schön mit kleinen Vergissmeinnichtblüten auf dem weichen Stoff und weißen Spitzenstickereien an den Rändern.
Sie beobachtete ihren Bruder, der eine kleine Schachtel aus dem Papier zog und den Deckel öffnete. Karl sprang auf, tanzte um den Tisch und hüpfte hin und her. »Juhu! Ein Taschenmesser!«
Elisabeth grinste. Die Begeisterung ihres Bruders war ansteckend.
Vater widmete sich seinem Sohn und erklärte ihm, dass er damit sehr vorsichtig sein musste. »Mit diesem Messer kannst du töten.« Dabei hob der die Augenbrauen.
Karl blickte in die Runde. Mit der Fingerkuppe schnippte er über die Messerklinge und steckte das neue Werkzeug zurück in die Lederhülle, um es gleich darauf wieder herauszuziehen.
»Dann wollen wir mal was essen.« Der Großvater erhob sich vom Kanapee und verließ das Weihnachtszimmer.
Nebenan in der Küche hatte die Mutter schon die festliche Tafel gedeckt. Als alle saßen, zündete der Vater die Kerze auf dem Tisch an. Elisabeth holte die gekochten Kartoffeln vom Herd und die Mutter brachte die fetten Würste, die es immer zu Weihnachten gab.
Der Vater verteilte das Essen auf die Teller und dann war nur noch das Klirren des Bestecks zu hören. Elisabeth schnitt sich kleine Wurststücke ab und schob sie sich in den Mund. Eigentlich mochte sie dieses Essen, auf das sie sich jedes Weihnachten freute. Doch dieses Jahr war alles anders. Ihre Gedanken wanderten wieder einmal zu Walter und sie stellte sich vor, wie gern er jetzt hier bei ihr sitzen würde.
Mit vollem Mund fing ihr Vater ein Gespräch an. »Was meinst du, wie lange brauchen unsere Truppen noch, um den Ivan niederzuringen?«, fragte er den Großvater.
Sie betrachtete den Großvater von der Seite. Der schmatzte und nahm einen Schluck aus seinem Weinglas. »Ich fürchte, da wird nichts niedergerungen.« Er schob gleich eine große Gabel Kartoffeln hinterher und schmatzte weiter.
Elisabeth schluckte. Am liebsten hätte sie gefragt, warum er das dachte, aber sie traute sich nicht.
»Ach geh! So schnell wie wir Land gewonnen haben. Das ist alles nur eine Frage der Zeit. Wo will denn der Genosse Stalin die vielen Nachschubtruppen herholen? Die meisten seiner Männer sind tot. Oder in Gefangenschaft.« Bei diesen Worten ihres Vaters kam Elisabeth der Ostarbeiter in den Sinn, der vor wenigen Wochen in Kaiserslautern erschossen worden war. Der Vorfall war tagelang das Gesprächsthema in den Pfaffwerken gewesen. Bei dem Gedanken daran lief ihr noch immer ein Schauer über den Rücken und sie quälte sich die letzten Kartoffelstücke in den Mund. Endlich war der Teller leer. Mit traurigem Herzen legte sie das Besteck ab und wischte über die Lippen.
»Du warst doch dort. Du kennst doch die Weiten Russlands. Weißt du, wie viele von denen irgendwo in den Wäldern und Sümpfen hausen?« Der Vater erhob sich grinsend von seinem Stuhl. Er trat zu der Wandkommode und holte seinen Hochprozentigen hervor.
Zuerst füllte er Großvaters Glas, danach seines. Die Frauen hoben abwehrend die Hände. »Nein danke«, sagte die Mutter kopfschüttelnd.
»Ein Hoch auf unsere deutschen Truppen!« Dann prostete er Elisabeth zu. »Ein Hoch auf den jungen Mann, der dich an der Front verteidigt.«
Ihr stiegen die Tränen in die Augen. Sie nestelte in ihrem Ärmel nach dem Taschentuch, das sie dort immer hineinsteckte, wenn sie keine Schürze trug. Schnell wischte sie sich über die Augen.
Erneut tätschelte der Großvater ihre Hand. »Wenn er siegreich zurückkehrt, wirst du einen wahrhaften Patrioten ehelichen, Lisbethchen.«
Sie nickte müde und hätte ihn gern an seine vorherigen Worte erinnert, ließ es aber sein.
Vater schaltete den Volksempfänger ein. »Gleich beginnt die Rede von Goebbels.« Er drehte die Lautstärke hoch, es rauschte,
knackste. Schon ertönte die unverkennbare Stimme des Reichspropagandaleiters. Die ersten Sätze waren undeutlich, dann
verstand man ein paar Wortfetzen und Fragmente: »Das Weihnachtsfest wird in diesem Jahr sehr sparsam und zurückhaltend
gefeiert …«
Elisabeth betrachtete den Tisch. Bei ihnen war es eigentlich wie immer. Nur die Tatsache, dass viele Eltern in den Nachbarhäusern
um ihre Söhne trauerten, Witwen im Ort um ihre Männer weinten. Das sorgte auch bei ihnen immer wieder für traurige Momente. Selbst jetzt, wo der Vater vor dem Lautsprecher seines Gerätes saß und jedes Wort von Goebbels benickte.
Nach ein paar Minuten verstummte die Stimme der rechten Hand des Führers und der Vater setzte sich zurück an den Tisch. »Die wissen genau, was sie tun.« Wollte er sich mit dieser Aussage selbst Mut zusprechen, glaubte er das wirklich oder hatte er vielleicht recht mit seinem Optimismus?
»Eins ist jedenfalls sicher: Der Führer hat einen klaren Plan und mit dem Lebensraum im Osten könnten wir wahrhaftig die Welt beherrschen. Niemand wird mehr hungern oder ohne Arbeit sein. Für dieses Ziel braucht es Opfer. Von den Männern an der Front und von uns allen.« Der Großvater wischte mit einer Hand über den Tisch und damit war klar, dass er dieses Thema beenden wollte.
Mutter und Großmutter hatten längst ein eigenes Gespräch begonnen und unterhielten sich über die toten Soldaten aus dem Dorf.
Elisabeths Ohren dröhnten. Ihre Gedanken surrten um all die leidvollen Gesichter, Walters Briefe und mit jedem gesprochenen
Wort wuchs ihre Angst um ihn.